Liebe Leserin, lieber Leser,
ich sitze im Zug von Straßburg nach Innsbruck und lasse die vergangenen Tage und Abstimmungen im Europaparlament Revue passieren. Ein Nein zum neuen Emissionshandelssystem und ein Ja zu ausschließlicher, 100%iger Elektrifizierung unserer Autos. Das hat das Europäische Parlament diese Woche entschieden. Und das hat alle überrascht.
Aber, der Reihe nach.
Auf den 8. Juni 2022 hatten wir schon lange hin gefiebert. Seit knapp einem Jahr kennen wir die Gesetzesvorschläge der Kommission zum großen Klimaschutzpaket Fit for 55. Nachdem sich das Europäische Parlament die ersten Wochen damit beschäftigt hat welche Ausschüsse für welche Gesetzesvorlagen zuständig sind, haben wir ab Weihnachten begonnen tiefer in die Materie einzutauchen, wie wir ganz konkret mehr als die Hälfte aller CO2-Emissionen bis 2030 reduzieren. Und nach fünf Monaten große Linien festlegen, nitty-gritty diskutieren, Mehrheiten finden und Stellungnahmen schreiben war es gestern so weit, das Plenum des Europaparlamentes stimmt im Juniplenum über die ersten Teile vom FF55 ab.
Unsere ganz große Klimaschutzwoche! Nur leider haben wir für rasche und effektive CO2 Reduktion in den vergangenen Tagen nicht viel getan.
Beispiel 1: Wir lehnen die Überarbeitung des Emissionshandelssystem ab, weil es nicht unrealistisch genug ist weit genug geht, obwohl es das ambitionierteste Programm ist, das wir je hatten? Muss man verstehen.
Was man dazu wissen muss: Im Europaparlament gibt es keine „fixen“ Koalitionen. Das heißt, es müssen für jedes Thema erneut Mehrheiten für einen Beschluss gesucht werden. Wenn jede Fraktion nur ihrer Ideologie hinterherjagt, käme kein Gesetz zustande. Man muss Kompromisse machen, und davon gab es auch für die EVP reichlich. Klimaschutz ist aber kein Wettlauf träumerischer Ambitionen, sondern muss machbar sein.
"Wenn jede Fraktion nur ihrer Ideologie hinterherjagt, käme kein Gesetz zustande. Man muss Kompromisse machen."
Im Vorschlag der Kommission zum neuen Emissionshandelssystem stand das Ziel von -61% CO2-Reduktion. Als Europäische Volkspartei haben wir -63% vorgeschlagen.
Im Vorschlag der Kommission zum neuen Emissionshandelssystem stand der Vorschlag, dass wir 2035 mit den Freizuteilungen von Zertifikaten aufhören. Als Europäische Volkspartei haben wir 2034 vorgeschlagen. Warum wir von grüner, roter und linker Seite als Klimaschutzverweigerer hingestellt werden erschließt sich für mich beim besten Willen nicht.
Kurz zur Erklärung, Emissionshandelssystem bedeutet, die europäischen Industriebetriebe „handeln“ mit CO2-Zertifikaten. Wenn sie ihre Produktionsanlagen verbessern und damit weniger CO2 verbrauchen, können sie die übrig gebliebenen Zertifikate verkaufen bzw. müssen weniger kaufen als ihre Mitbewerber. Den Preis für eine Tonne CO2 regelt der Markt – Angebot und Nachfrage, ihr wisst schon.
Vereinbart ist, dass es jedes Jahr weniger Zertifikate gibt. Das funktioniert schon seit vielen Jahren so, hat innovative Industriebetriebe auf Ihrem Weg der Emissionsreduktion belohnt und ziemlich verlässlich CO2 reduziert – und das ohne Preiserhöhungen im Regal. Die Kommission hat vorgeschlagen, dieses System auf die Schifffahrt und die Bereiche Heizen und Straßenverkehr auszuweiten und die Freizuteilungen für die Luftfahrt auslaufen zu lassen. So weit so gut. Der Text, der aber am Ende aus dem Umweltausschuss kam, war allerdings weniger gut.
Ich habe es mir nicht leicht gemacht bei der Schlussabstimmung zum sogenannten ETS zuzustimmen. Es ist prinzipiell das richtige Instrument, allerdings in Zeiten einer drohenden Rezession, extremen Energiepreisen bei gleichzeitig hoher Inflation kontraproduktiv. Das war beim Entwurf des FF55 noch nicht absehbar, muss aber jetzt beachtet werden.
Kompromisse und Key Votes
Trotzdem habe ich mich für ein + bei der Schlussabstimmung entschieden, weil wir als Europäische Volkspartei auch viele wichtige Abänderungsanträge gewonnen haben. Darunter zwei, die ich für mich als key vote definiert habe. Ein üblicher Vorgang im Europaparlament, der uns hilft das große Ganze nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn zu einem Gesetzesvorschlag hunderte Abänderungsanträge eingehen, die in wenigen Minuten abgestimmt werden, dann brauchst du große rote Linien, die dir helfen die finale Schlussabstimmung einzuschätzen.
Ein key vote ist also eine Art „Teilabstimmung“ zu Positionen, die so wichtig sind, dass sie die Meinung zum Gesamttext beeinflussen.
Der Umweltausschuss wollte zum Beispiel sofort 250 Millionen CO2-Zertifikate aus dem „verfügbaren Markt rausnehmen“. Die Kommission hat 120 Millionen vorgeschlagen. Der Umweltausschuss hat auch bei den sogenannten Benchmarks „weit übers Ziel hinausgeschossen“ – heißt auf Deutsch man hält den europäischen Betrieben eine Karotte hin, die sie nie erreichen können – macht aber eine schöne Überschrift draus. So funktioniert Klimaschutz nicht, das schwächt den Wirtschaftsstandort. Es ist uns gelungen beides aus dem Text herauszustimmen.
Nach den Abstimmungen über die 405 Abänderungsanträge hat aber die sozialdemokratische Fraktion eine drei-minütige Pause vor der Schlussabstimmung beantragt, um die Stimmempfehlung für Ihre Mitglieder zu diskutieren, die im Industrieausschuss zur entsprechenden Stellungnahme übrigens noch ganz anders aussah. Und deshalb steht jetzt in den Sitzungsprotokollen 265 in favour, 340 against, 34 abstentions. Rejected. Damit hat das Europaparlament das Herzstück des ambitioniertesten Klimaschutzpaketes weltweit abgelehnt.
Beispiel 2: Das liebe Auto. In der Masse oft das Feindbild, das eigene Einzelstück aber notwendig.
Mit den sogenannten CO2 Standards for Cars and Vans hat die Kommission einen Vorschlag gemacht, wie „klimafreundlich“ unsere Autos im Jahr 2035 sein sollen. Die CO2-Fahrzeugemissionen sollen um 100% auf null CO2 reduziert werden, ohne Berücksichtigung des Kraftstoffs. D.h. auf Deutsch „Verbot des Verbrennungsmotors.“ Die Entscheidung der Abgeordneten bei der Schlussabstimmung war deutlich 339 in favour, 249 against, 24 abstensions. Adopted.
Ich bin der Meinung, dass wir den Verbrennungsmotor brauchen, um schnell und kosteneffizient CO2 im Verkehrssektor zu reduzieren. Es ist nur logisch, dass wir das Verbot streichen wollten. Wir haben übrigens nicht 0% Reduktion vorgeschlagen, wie man meinen könnte, wenn man so manche Schlagzeile liest, sondern 90%!
Und wir haben auch nicht vorgeschlagen auf ewig weiterhin konventionellen Diesel oder konventionellen Benzin zu verwenden, sondern den Verbrennungsmotor mit klimaneutralen Treibstoffen zu betreiben, denn das sichert seine sinnvolle Weiterverwendung über 2035 hinaus. Ich bin überzeugt, dass wir einen europäischen Markt für nachhaltige Bio-Kraftstoffe und synthetische Kraftstoffe brauchen. Denn Technologieneutralität ist entscheidend dafür, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Wir schützen das Klima und halten Europa wettbewerbsfähig.
Der Green Deal muss auch ein Deal sein.
Durch dieses klare Bekenntnis zur Technologieneutralität entstehen auch Arbeitsplätze in der erneuerbaren Energiewirtschaft in Europa, sogenannte Green Jobs. Davon sprechen viele Abgeordnete gerne, wenn eine Kamera oder Presseaussendung um die Ecke biegt, um dann genau im wichtigen Moment anders abzustimmen. Green Jobs in China (made by Europe) quasi.
Sollte das in den Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten so bleiben, dann nehmen wir den Konsumenten eine Wahlmöglichkeit und drängen sie förmlich dazu sich lieber früher als später ein neues Auto mit Elektromotor zu kaufen. Und damit das auch viele machen stellen wir viel Fördergeld dafür zur Verfügung. Die zwingend notwendige Infrastruktur beschreiben wir in schönen Worten, aber so richtig loslegen tun wir damit irgendwie nicht. Die Mitgliedsstaaten haben letzte Woche die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Alternative Fuels Infrastructure Directive deutlich heruntergeschraubt und Ausnahmen vorgeschlagen. Also, das wird alles sehr lange dauern und sehr teuer werden. In einer Folgeabschätzung hat die Kommission ausgerechnet, dass wir bis zum Jahr 2030 370 Milliarden Euro brauchen, um auf den Autobahnen alle 60 Km eine Schnelllademöglichkeit für Elektromobilität zu bauen.
Wir hätten auch einfach mit Biotreibstoffen (die wir schon lange und selbst produzieren) und der bestehenden Tank-Infrastruktur (die den Steuerzahler nichts kostet) anfangen können die fünf Millionen PKWs in Österreich zu defossilieren. Und das noch heuer.
Aber ok, der ideologische Weg ist eingeschlagen. Über den Tellerrand schauen haben wir verlernt oder mögen wir nicht mehr, weil es nicht in eine schöne Schlagzeile passt. Der Wettbewerb um immer mehr und noch mehr Ambitionen ist – vor allem im Europaparlament – eh schon lange ausgebrochen. Ambitions need capabilities.
"Die höchste %-Zahl, das schönste Reduktionsziel bringt halt nichts, wenn es nicht umsetzbar ist."
Es ist jetzt kurz nach 20 Uhr, mein Zug saust verlässlich durch das Tiroler Oberland. Die letzte eMail die ich lese, bevor ich aussteige sagt mir, dass wir noch im Juni einen neuen Anlauf nehmen und über neue Kompromisse abstimmen.
Liebe Grüße,
Barbara
Photocredit Header: @ European Union 2022 – Source : EP